Die wunderbare Welt der Angststörungen

Schlagwort: Panik

Die Angst ist berechenbar

Lange habe ich gedacht, dass ich im negativen Sinne einzigartig bin mit meiner Angststörung. Einer, der mit seinem Leid allein ist. Einer, für den es keine Lösung gibt. Es war ein einsames Leid. Leider habe ich recht spät in meiner Leidensgeschichte erfahren, dass Angst-Attacken einem berechenbaren Muster folgen. Dass ich gar nicht so einzigartig bin wie ich gedachte habe. Für mich eine beruhigende Vorstellung. Mir persönlich hilft Wissenschaft, die mir sagt: „Bleib mal locker, du bist nur ein Fall von tausenden und was du durchmachst ist gut erforscht“.

Heftig, aber berechenbar

Jede meiner Angst-Attacken beginnt mit einem Gefühl, dass plötzlich irgendetwas nicht stimmt. Die Angst spielt ihr hässliches Spielchen mit uns. Jetzt geht es los. Als Beispiel hier einer meiner Ängste: Ein großer Raum voller Leute, es ist stickig, ich bin gut gekleidet, will aussehen wie aus dem Ei gepellt und fange an zu schwitzen. In meinem Kopf rast die Panik: Was soll ich jetzt tun? Werden andere sehen, dass sich mein Hemd langsam in einen Schweiss-Schwamm verwandelt?

Taschenrechner
Quelle: Pixabay / Rob Owen-Wahl

Die Angst davor wie es weiter geht

In meinem Kopf katastrophisiert die faktische Feststellung „hier sind viele Leute und es ist stickig“ zu einem „ich werde peinlich aussehen“, „alle werden es sehen“, „ich mache mich lächerlich“ oder „ich werde kollabieren, weil ich es nicht mehr aushalte“. Nichts von all dem ist jemals passiert, aber mein Kopf arbeitet gerade an einem Katastrophen-Film. Das Drehbuch sagt: die Angst wird sich ins Unermessliche steigen, bis ich es nicht mehr aushalte.

Die Vermeidung

Was also tun? Raus. Bloß raus aus dem Raum. Raus aus der stickigen Luft, aus der vermeintlich drohenden Peinlichkeit, aus der unbeherrschbaren Situation. Und zack: weniger Minuten später fühle ich mich besser. Nicht, weil es draußen vielleicht weniger stickig wäre. Aber mein Körper belohnt mich mit mit einem Glücksgefühl, der Gefahr erfolgreich entronnen zu sein. Oder besser: vermeintlich erfolgreich. Denn beim nächsten Mal wird alles wieder von vorne los gehen. Mein Sieg ist also nur ein scheinbarer Sieg.

Arsch zusammenkneifen und durch

Wirklich helfen kann nur eins: Augen zu und durch. Dabei erleben Angst-Patienten wie ich zweierlei. Erstens: ja, die Angst steigt. Es wird wirklich schlimm. Aber zweitens: es wird nie so schlimm wie befürchtet. Irgendwann im Verlauf der Reaktion nimmt die Angst ab. Ein Sieg. Oder: ein halber. Denn beim nächsten Mal in einer ähnlichen Situation wird es wieder schlimm sein. Die gute Nachricht: es wird weniger schlimm als beim ersten Mal. Unsere Seele kann sich an die Angst gewöhnen. Und dann fühlt es beim dritten, vierten, fünften Mal immer weniger bedrohlich an.

Geht die Angst ganz weg?

Ob ich mich durch das fleißige und mutige Durchstehen der Angst irgendwann in großen Gruppen in großen Räumen und stickiger Luft gut fühlen werde, weiß ich nicht. Noch warte ich darauf. Ich merke aber schon: die Phasen, in denen ich mich unwohl fühle, werden seltener. Und manchmal vergesse ich sogar schon, dass meine Angst gerade jetzt eigentlich Gas geben sollte. Dann denke ich: „Wenn ihr wüsstet, welche Schwerstarbeit mein Kopf gerade leistet und dass ich es gerade mal wieder geschafft habe!“. Und dann bin ich stolz auf mich. Ganz heimlich ohne groß darüber zu reden. Mein kleiner, stiller Sieg über meine Angst.

Ich habe Angst!

Das klingt so locker. So alltäglich. So, als ob es nichts wäre, was man irgendwie besonders erwähnen müsste. Angst haben wir schließlich alle. Vor der Achterbahn, vor Spinnen, vor der nächsten Flugreise. Dass meine Angst anders ist, musste ich mühsam lernen. Meine Angst ist weit entfernt von dem, was Psychologen als „normalpsychologische Reaktion“ beschreiben. Also Reaktionen unserer Psyche auf auf ein Ereignis oder einen Reiz, die man „normal“, sprich: bei den meisten Menschen auftretend, nennen könnte.

Quelle: Pixabay / wokandpix

Warum groß darüber reden?

Die üblichen Ängste sind ganz normal bei uns allen. Sie sollen uns schützen und – so abgedroschen dieses Bild sein mag – sind ein Überbleibsel aus unserer Zeit, als wir uns vor Säbelzahn-Tigern in Sicherheit bringen mussten. Wenn Adrenalin in den Körper kickt, sich Muskeln anspannen, wir einen Tunnelblick entwickeln, wir anfangen zu schwitzen, dann macht sich unser Körper fluchtbereit, damit wir dem Tiger nicht als Abendessen dienen. Dass es keine Säbelzahn-Tiger mehr gibt hat unsere Körper- und Seelenkonstruktion irgendwie noch nicht so richtig verstanden.

Meine Angst ist kaum greifbar und immer wieder neu

Meine Angst hingegen sucht sich immer wieder neue, absurde Spielfelder. Mal ist es die Angst davor, Magenkrebs zu haben, weil mein Vater daran gestorben ist. Mal meine ich, irgendwelchen absurden Kribbelgefühle in meiner Brust zu spüren und renne zum Arzt, um mich durchchecken und von Physiotherapeuten, Osteopathen und Neurologen behandeln und weiter untersuchen zu lassen.

Dann entdecke ich plötzlich Herzrhythmus-Störungen, die sogar messbar sind. 14 Tage Krankenhaus und die private Krankenversicherung geben alles. Und finden: nichts. Oder besser: Nichts körperliches. Denn Angst hat, dessen Herz kann wirklich Herzrhythmusstörungen produzieren. Messbar, wenn auch ohne körperlichen Grund. „Funktionale Rhythmusstörungen“ heisst das dann.

Dann entwickele ich plötzlich Angst davor, nicht schlafen zu können und der bloße Anblick meines Bettes löst bei mir Fluchtreaktionen aus. Schweiß, erhöhte Herzfrequenz, rasende Gedanken. Eine besonders wunderbare Spielart meiner Angst, denn wer Angst hat, schläft mit Sicherheit nicht ein. Selbst erfüllende Prophezeiung von einer Seite, die so absurd ist, dass es zum Lachen wäre, wenn ich nur darüber lachen könnte.

Dabei "habe" ich doch "gar nichts"

Eigentlich aber ist mit mir alles in Ordnung. Mit meinem Herzen, meiner Brust, meinem Schlaf. Eigentlich. Oder besser: ich leide an nichts körperlichem. Mein Kopf ist da ganz anderer Ansicht. Er lässt all das, was ich „nicht habe“, real werden. Unsere Psyche ist ein wunderbares und mächtiges Ding. Es produziert Symptome von Dingen, die nur in unserem Kopf existieren. Für mich ist alles real, was ich gerade empfinde. Dann kann ich nicht unterscheiden zwischen „es ist wirklich“ oder „es ist nur in meinem Kopf“. Und wer könnte das schon? Gefühle sind eine große Macht in uns. Wenn tun, wenn wir ihnen nicht mehr trauen können?

Quelle: Pixabay / Myriams-Fotos

Real oder nicht?

Dieser Gedanke stellt etwas in Frage, was meine Grundfesten erschüttert hat: im Rest des Lebens sind wir uns sicher, „real“ von „irreal“ unterscheiden zu können. Für einen Menschen wir mich aber ist das bei Dingen wie zum Beispiel Körpergefühlen nicht mehr der Fall. Wie also leben mit einem Körper, dessen Psyche sich immer wieder neue Problemfelder ausdenkt, an deren Ende mir nicht mehr klar ist, ob etwas „wirklich“ existiert oder es „unwirklich“ nur in meinem Kopf entsteht. Eine Antwort? Hab ich noch nicht. Nur den Beginn einer Antwort: Ich muss akzeptieren, dass es zumindest die Möglichkeit gibt, dass es für etwas, das ich denke oder fühle keinen konkreten Anlass gibt, sondern dass gerade einfach mal wieder meine Psyche sich ein neues, lustiges Spielfeld erobert hat.

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