Die wunderbare Welt der Angststörungen

Schlagwort: Angststörung

Verkorkste Kindheit

Es klingt genau nach dem Klischee, das man bei Psychotherapeuten erwartet: Der Auslöser von allerlei „Knoten im Kopf“ ist oft die Kindheit, heißt es. Darum war ich sehr skeptisch, als ich in meiner Therapie davon hörte. „Klar, immer ist es die Kindheit, denen fällt auch nix anderes ein“, dachte ich. Später musste ich lernen: das vermeintliche Klischee war in meinem Fall schlicht und einfach wahr.

Ich mag hier nicht allzu sehr ins Detail gehen, denn das würde eine Grenze überschreiten, die ich nicht überschreiten möchte. Nicht, weil ich der Internet-Öffentlichkeit plötzlich misstrauen würde. Sonst hätte ich alles andere in diesem Blog sicher gar nicht erst geschrieben. Sondern weil in diesem Fall andere Menschen, nämlich meine Eltern, Teil der Geschichte sind. Was ich aber öffentlich sagen kann: ich hatte eine völlig verkorkste Kindheit. Mit körperlicher und seelischer Gewalt durch den Vater. Einer Mutter, die mich beschützen wollte, aber nicht konnte und einem Zuhause, in dem ich mich selten sicher, sondern ständig bedroht fühlte.

Ein paar Schläge haben noch niemandem geschadet?

Es war nämlich mehr als nur ein paar Schläge. Es war die grausame, kraftvolle Hand, deren Finger ich an meinem Hintern spürte. Der Gürtel, der mit seiner Metallschnalle so richtig schmerzte, wenn er mich auf den Rücken traf. Es waren viele kleine Details, die ich schmerzhaft gefühlt habe. Viel mehr als das Wort „Schläge“ je ausdrücken könnte.

Vor allem aber war es die psychische Gewalt gegen mich als Kind. Der Liebesentzug, die permanenten „Du wirst versagen und alles wird im Chaos enden“-Geschichten. Das ständige Gefühl, alles falsch zu machen, ständig kritisiert zu werden und natürlich die dauernd vorhandene Angst vor der nächsten Prügel-Attacke.

Junge hält sich die Hände vor Gesicht und Vater mit einem Gürtel im Vordergrund
Quelle: FlickR / Rick's visuals

Nur ein paar Schläge“ … und viele Auswirkungen

Heute weiß ich: Misshandlungen in der Kindheit erschüttern das, was Kinder am meisten brauchen. Das absolute Vertrauen, dass Ihre Eltern hinter Ihnen stehen. Die einzig wirklich wichtigen Bezugspersonen in ihrem Leben. Wenn diese Personen emotional nicht da sind sondern – wie bei mir – Vertrauen und das Gefühl, geliebt zu sein wie man ist, durch Gewalt und Bedrohung ersetzt werden, dann war’s das. Emotionales Game over. Bei mir zumindest. 

Mein Körper in ständiger Alarmstimmung

Ich war ständig auf der Hut wie ein Erdmännchen, das um sein Leben fürchtet … irgendwie muss ich das Symbolbild nebenan ja erklären…. ich wollte nicht „schon wieder“ einen „Fehler“ zu machen, der zu Schläge führte. Ich war immer leise, um nicht schon wieder angebrüllt zu werden. Ich war selten „ich“, wenn mein Vater in der Nähe war. Das ging nur, wenn ich mit meiner Mutter allein war. Sie war die Person, die wirklich wusste, wie ich bin und was ich will.

Bis ich es irgendwann nicht mehr ausgehalten und gegen meinen Vater rebelliert habe. Mit absehbaren, schmerzhaften Konsequenzen. Mein einziges Gegenmittel: meinen Vater auszulachen, während er mich mal wieder verprügelte. „Mehr fällt dir nicht ein, was? Immer nur prügeln, prügeln, prügeln“, habe ich ihm ins Gesicht geschrien. Das Ergebnis: seine Wut wurde noch größer, weil er seine eigene Hilflosigkeit gespürt hat. Die Schläge wurden ebenfalls noch schlimmer. Trotzdem hatte ich gewonnen. So zumindest mein Gefühl. Ich habe ihn an einer Stelle entblößt, über die er keine Gewalt hatte: seine eigene Hilflosigkeit gegenüber seinen Gefühlen.

Rudel Erdmännchen
Quelle: Pixabay / Mark

Was am Ende dabei raus kommt

In meinem Fall kam dann leider im Alter von 10 – 14 Jahren auch noch eine schwere Krankheit dazu. Fast vier Jahre dauernden Krankenhausaufenthalt mit vielen schweren Operationen. Beides in Kombination hat es geschafft, mich endgültig als permanent schwach, verletzlich und wehrlos zu erleben. Das Resultat: Angst. Vor ganz vielem. Dass mir das Leben entgleiten könnte, wie mein Vater drohend prophezeit hat. Das alles ganz schlimm enden würde. Dass der kleinste Fehler zerstörerische Konsequenzen haben könnte. Ein kleiner Trigger kann dafür sorgen, dass ich katastrophisiere. Wenn, ja, wenn es mich emotional betrifft. Ein wichtiges Detail.

Das klingt, als ob man mit einer Kindheit wie meiner nicht zu einem selbstbewussten erwachsenen Menschen werden kann, gell? Falsch! Nur ist mein Selbstbewusstsein sehr selektiv. Wenn ich die Dinge im Griff habe, dann kann ich nach außen dabei erstaunlich selbstsicher wirken. Passieren Dinge, die mich in meine Kindheitserlebnisse zurück rutschen lassen, dann ist es das Gegenteil. Plötzlich bin ich wieder der kleine Junge, der Angst hat. Ich ziehe mich zurück und in meinem Gefühlen ist das Ende meiner kleinen Welt nah. Beim Aufschreiben und mit emotionaler Distanz bringt mich das zum Lachen, weil es so absurd übertrieben klingt. Ist aber leider wahr. Ich arbeite daran. Eines meiner wichtigen Ziele.

Meine Bitte

In einer Therapiesitzung habe ich es einmal auf den Punkt gebracht. Ich habe meinen Vater, längst verstorben, angeschrien: „Du Arschloch, weißt Du eigentlich, dass Du mir mein ganzes Leben versaut hast? Du hast gesagt, du willst mich beschützen, und was hast du getan? Mein ganzes Leben kaputt gemacht!!“ Ich hatte Tränen in den Augen und es fühlte sich an, als ob mein Körper beben und meine Haut kribbeln würde. Darum, liebe Eltern: bitte, bitte, gebt Euren Kindern Liebe und Rückhalt und das unerschütterliche Gefühl, Euch vertrauen zu können. Selbst wenn mal Mist passiert. Ich habe selbst keine Kinder, kann also „leicht“ reden. Und ich sehe bei Freunden, wie nervenaufreibend Kinder sein können. Und wie schwer ist, nicht auszuflippen, die Kids anzuschreien, die Hand zu erheben. Aber wollt ihr Ihnen einen verschissenen Lebensstart bereiten wie mein Vater es bei mir getan hat? Darum: Macht ihnen keine Angst, auch wenn Ihr Angst um sie habt. Ihr seid die ganz kleine große Welt Eurer Kinder. Und die muss für sie sicher sein. Wenn Ihr Ängste fühlt und meint, Eure Kinder nur durch extreme Kontrolle und Einschüchterung von dem vermeintlich Bösen in dieser Welt beschützen zu müssen, dann macht sie nicht zu den Ängsten Eurer Kinder. Das ist EURE Baustelle, nicht die Eurer Kinder.

Quelle: Pixabay / Shannon Lawford

Gut und böse, mutig und ängstlich

„Der Sascha, der ist ein witziger Typ“, höre ich oft. Von Freunden oder Arbeitskollegen oder Menschen, die mich nur kurz kennen lernen. Ich kann ein Strahlemann sein und ein Mensch, der auch in schwierigen Situationen mit scheinbarer Gelassenheit eine Lösung findet. Nach außen wirkt das dann wie der sprichwörtliche Fels in der Brandung, der scheinbar die Ruhe behält, wenn die See um mich herum wild tobt.

Mann mit Hut macht lustiges Gesicht
Quelle: Pixabay / Ryan McGuire

Wie kannst Du unter einer Angststörung leiden?

Wie aber passt das zu meiner Angststörung? Verheimliche ich also allen da draußen etwas? Spiele ich ihnen nur etwas vor und all das, was Außenstehende von mir sehen, ist nur ein wunderbares, über Jahre einstudiertes Theaterstück namens „Der fröhliche Typ von nebenan“? Das wäre einfach, denn die Erklärung ist komplizierter.

In der Tat gibt es bei einem Angstpatienten wie mir beide Seiten. Da sind die Tage, an denen ich genau so bin, wie mich andere oft zur Kenntnis nehmen. Dazu braucht meine Seele keine Schminke, keine auswendig gelernten Texte und es ist auch kein gewaltiger Maskenball. Ich bin echt, ehrlich und gut gelaunt mit einem Hang zum absurden Optimismus. Dann bin ich Luke Skywalker, der mutige Yedi, der auch den Kampf allein gegen das Böse nicht scheut.

Die dunkle Seite der Macht

Und dann gibt es Tage oder Phasen oder Stunden, in denen bin ich Darth Vader. Die dunkle Seite. Beherrscht von meiner Störung. Wenn die Angst gerade mal wieder rein kickt und ich hilflos bin. Wenn mein analytisches Denken gerade mal wieder vor die Wand läuft und mein Kopf den nächsten Horrorfilm im Streaming-Portal „Saschas schönste Ängste“ ausgewählt hat. Auch das bin ich. Die andere Seite von mir. Nein, ich leider nicht unter eine multiplen Persönlichkeit. Meine Seele hat einfach verschiedene Anteile. Mal gewinnt die eine, mal die andere. Wie bei uns allen, die wir vor manchen Dingen Angst haben und vor anderen nicht. Der Unterschied bei mir: manchmal ist mir nicht klar, wer hier gerade auf die Bühne getreten ist und warum gerade er ausgerechnet jetzt seinen Auftritt hat.

Spielzeugfigur Darth Vader
Quelle: Pixabay / Erika Wittlieb

Der Angstpatient - der unzuverlässige Typ?

Das Tolle an mir ist: ich habe all das inzwischen professionalisiert. Ich habe meinen Weg gefunden, damit umzugehen. Zumindest nach außen. Im Job merken das nur Menschen, die mich sehr lange kennen. Der Rest erlebt mich einfach als jemand, der alles perfekt unter Kontrolle hat. Lösung A, B und C hab ich immer gleich in der Tasche. Eine Strategie, um mich zu schützen. Um mich selbst zu beruhigen, dass auch in einer Angstphase nichts schief geht. Arbeitgeber finden so was sicher klasse, denn auch wenn Außenstehende meinen könnten, ich könnte ja „jederzeit austicken“ ist das Gegenteil der Fall: Ich habe mir Methoden geschaffen, maximal zuverlässig zu sein. Wie es meiner Seele in solchen Phasen geht, spielt im Job ja keine Rolle. Was ich sogar – erstaunlich und vielleicht nur meine ganz eigene Sicht der Dinge – verstehen kann. Wenn jeder in einem Betrieb seine Befindlichkeiten thematisieren würde, gäbe es vermutlich sogar große Probleme, sich ums Tagesgeschäft zu kümmern und der Laden wäre eine große Therapiegruppe. Für mich aber war genau das der Grund, mich um mich selbst zu kümmern. Und Profis zu suchen, die mir helfen. Weil „einfach mal drüber reden“ nicht mehr gereicht hat.

Ich habe Angst!

Das klingt so locker. So alltäglich. So, als ob es nichts wäre, was man irgendwie besonders erwähnen müsste. Angst haben wir schließlich alle. Vor der Achterbahn, vor Spinnen, vor der nächsten Flugreise. Dass meine Angst anders ist, musste ich mühsam lernen. Meine Angst ist weit entfernt von dem, was Psychologen als „normalpsychologische Reaktion“ beschreiben. Also Reaktionen unserer Psyche auf auf ein Ereignis oder einen Reiz, die man „normal“, sprich: bei den meisten Menschen auftretend, nennen könnte.

Quelle: Pixabay / wokandpix

Warum groß darüber reden?

Die üblichen Ängste sind ganz normal bei uns allen. Sie sollen uns schützen und – so abgedroschen dieses Bild sein mag – sind ein Überbleibsel aus unserer Zeit, als wir uns vor Säbelzahn-Tigern in Sicherheit bringen mussten. Wenn Adrenalin in den Körper kickt, sich Muskeln anspannen, wir einen Tunnelblick entwickeln, wir anfangen zu schwitzen, dann macht sich unser Körper fluchtbereit, damit wir dem Tiger nicht als Abendessen dienen. Dass es keine Säbelzahn-Tiger mehr gibt hat unsere Körper- und Seelenkonstruktion irgendwie noch nicht so richtig verstanden.

Meine Angst ist kaum greifbar und immer wieder neu

Meine Angst hingegen sucht sich immer wieder neue, absurde Spielfelder. Mal ist es die Angst davor, Magenkrebs zu haben, weil mein Vater daran gestorben ist. Mal meine ich, irgendwelchen absurden Kribbelgefühle in meiner Brust zu spüren und renne zum Arzt, um mich durchchecken und von Physiotherapeuten, Osteopathen und Neurologen behandeln und weiter untersuchen zu lassen.

Dann entdecke ich plötzlich Herzrhythmus-Störungen, die sogar messbar sind. 14 Tage Krankenhaus und die private Krankenversicherung geben alles. Und finden: nichts. Oder besser: Nichts körperliches. Denn Angst hat, dessen Herz kann wirklich Herzrhythmusstörungen produzieren. Messbar, wenn auch ohne körperlichen Grund. „Funktionale Rhythmusstörungen“ heisst das dann.

Dann entwickele ich plötzlich Angst davor, nicht schlafen zu können und der bloße Anblick meines Bettes löst bei mir Fluchtreaktionen aus. Schweiß, erhöhte Herzfrequenz, rasende Gedanken. Eine besonders wunderbare Spielart meiner Angst, denn wer Angst hat, schläft mit Sicherheit nicht ein. Selbst erfüllende Prophezeiung von einer Seite, die so absurd ist, dass es zum Lachen wäre, wenn ich nur darüber lachen könnte.

Dabei "habe" ich doch "gar nichts"

Eigentlich aber ist mit mir alles in Ordnung. Mit meinem Herzen, meiner Brust, meinem Schlaf. Eigentlich. Oder besser: ich leide an nichts körperlichem. Mein Kopf ist da ganz anderer Ansicht. Er lässt all das, was ich „nicht habe“, real werden. Unsere Psyche ist ein wunderbares und mächtiges Ding. Es produziert Symptome von Dingen, die nur in unserem Kopf existieren. Für mich ist alles real, was ich gerade empfinde. Dann kann ich nicht unterscheiden zwischen „es ist wirklich“ oder „es ist nur in meinem Kopf“. Und wer könnte das schon? Gefühle sind eine große Macht in uns. Wenn tun, wenn wir ihnen nicht mehr trauen können?

Quelle: Pixabay / Myriams-Fotos

Real oder nicht?

Dieser Gedanke stellt etwas in Frage, was meine Grundfesten erschüttert hat: im Rest des Lebens sind wir uns sicher, „real“ von „irreal“ unterscheiden zu können. Für einen Menschen wir mich aber ist das bei Dingen wie zum Beispiel Körpergefühlen nicht mehr der Fall. Wie also leben mit einem Körper, dessen Psyche sich immer wieder neue Problemfelder ausdenkt, an deren Ende mir nicht mehr klar ist, ob etwas „wirklich“ existiert oder es „unwirklich“ nur in meinem Kopf entsteht. Eine Antwort? Hab ich noch nicht. Nur den Beginn einer Antwort: Ich muss akzeptieren, dass es zumindest die Möglichkeit gibt, dass es für etwas, das ich denke oder fühle keinen konkreten Anlass gibt, sondern dass gerade einfach mal wieder meine Psyche sich ein neues, lustiges Spielfeld erobert hat.

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