Die wunderbare Welt der Angststörungen

Monat: August 2022

Die Klinik – Teil 3. Kein Fortschritt?

Die ersten zwei Wochen waren heftig. Aber es sollte noch heftiger kommen. Ich darf das erste Wochenende zu Hause verbringen. „Endlich“, denke ich. Und gleichzeitig macht es mir große Angst. Zu Hause sein heißt auch zu Hause schlafen zu müssen. In dem Bett, in der Wohnung die mir zuletzt so große Probleme bereitet hat. Ein Gedanke, der sich schnell bei mir fest frisst und mich unerwartet in die nächste große Krise stürzt.

Zu Hause, zurück in die gewohnte Umgebung. Ich habe mich sehr gefreut, meinen Mann wieder zu sehen. Natürlich haben wir jeden Tag Kontakt, machen Videocalls und chatten zwischendurch. Aber fürs Ankommen in einer Klinik ist wichtig, dass man den Kontakt „nach Hause“ reduziert. Für mich ist das nicht nicht einfach. Auch nach fast 12 Jahren Beziehung sind wir immer noch froh, uns zu sehen und reden gern miteinander.

Hoffnung. Enttäuschung. Nah beieinander.

Jetzt also zurück fürs Wochenende. „Belastungserprobung“ nennen das die Mediziner hier. Ich fand das Wort lächerlich. Warum nennen sie das nicht einfach „Freizeit“ oder „Wochenende“ sondern machen da so einen medizinischen Hokuspokus raus? Aber schnell sollte ich lernen, dass es genau den Punkt trifft. Es ist nämlich in der Tat „belastend“.

 

Der Samstag beginnt, als ob er Alltag wäre. Oder zumindest die Simulation von Alltag. Mein Mann und ich hatten vorher besprochen, dass wir bewusst auf romantische, sehr emotionale Dinge verzichten wollen, damit mir der Abschied am Sonntag nicht so schwer fallen würde und meine Anpassungsprobleme in der Klinik wieder los gehen. Also probieren wir die Inszenierung von Pseudo-Alltäglichkeit. Ich gehe zum Bäcker, kaufe Brötchen und Kuchen und fahre weiter nach Hause. Mein Mann liegt noch im Bett. Die Woche war anstrengend für ihn. Ich wecke ihn und sehe mein Alptraum-Bett wieder. Ganz ohne Alptraum diesmal. Matratze, Laken und Bettdecke zu sehen fühlt sich gut an. Oder zumindest neutral. Aber noch ist es Tag und nicht Nacht. Noch muss ich mir nicht beweisen, dass ich hier schlafen kann.

Drei Schlüssel mit Schlüsselanhänger in Form eines Hauses
Quelle: Freepik / Rawpixel.com

Plötzlich geht es los

Das ändert sich gegen 17 Uhr. Beim Vorbeilaufen am Schlafzimmer kommt mir plötzlich dieser eine kurze Gedanke. „Noch 5 Stunden, dann schauen wir mal, ob das mit dem Schlafen klappt“. Ein Gedanke, der sich fest frisst. Dem ich dabei zusehen kann, wie er sich einbohrt in meine Gedanken und alle positiven Gefühle mit sich in die Tiefe reißt. Für Außenstehende mag dies fast lächerlich klingen. Für mich ist es die pure Angst. Ich versuche es zu überspielen, mich selbst zu beruhigen. Es klappt. Vorerst.

Doch dann kommt, was kommen musste: Die Nacht ist da. Ich lege mich ins Bett und alle negativen Gefühle sind wieder da. Mit Wucht. Mit Schwitzen, Zittern, Wut und großer Angst. „Scheisse, scheisse, scheisse“ schreie ich in mein Kissen. Ich bitte meinen Mann, mir diesmal nicht zu helfen. Ich will es allein schaffen, mit den Techniken, die ich in der Klinik gelernt habe. Mit der super anstrengenden Stresshocke, die mich aus meinem Panikgefühl raus holen soll. Mit super saurem Zitronensaft, der ebenfalls meine Gedankenkreise unterbrechen soll. Mit dem, was ich mir sorgfältig nach jeder Therapiesitzung aufgeschrieben habe. Es wirkt … nicht. Aus purer Verzweiflung schreibe ich einem Mitpatienten, dessen Handynummer ich habe. Mitten in der Nacht gibt er mir Tipps, wie ich mich verhalten soll. Mir helfen die Worte „Lass sich auf die Angst ein, lass sie kommen, sie tut weh, aber sie wird vorbei gehen“. Irgendwann schlafe ich ein.

Schemenhafter Geist im Alptraum
Quelle: Pixabay / Stefan Keller

Morgens fühle ich mich wie zerschlagen. Nicht, weil ich zu wenig geschlafen habe. Ich habe genug Stunden auf der Schlaf-Uhr zusammen bekommen. Vielmehr ist es die Enttäuschung über mich selbst, über die Klinik, die es nicht geschafft hat, mir ausreichende Methoden an die Hand zu geben. Dass ich dieses Mal nicht vom Bett aufs Sofa geflüchtet bin, dass ich nicht komplett durchgedreht bin, dass ich zumindest angefangen habe die Anti-Stress-Methoden anzuwenden statt nur zu weinen – das könnte ich mir als erste gute Entwicklungen auf meine Positiv-Liste schreiben. Tue ich aber nicht. „Ich habe versagt und es wieder nicht hinbekommen“, ist das einzige, was mir einfällt. Da kann mein Mann mit Engelszungen und einer schon Monate andauernden Geduld auf mich einreden – ich fühle mich nur schlecht.

Macht das alles Sinn?

Ich kürze ab: auch das Wochenende danach wird genau so wie das erste. Tagsüber ist alles gut. Die Dämonen kommen nachts. Gut, an diesem Wochenende ist es heiß in Deutschland und vermutlich fällt vielen das Einschlafen schwer. Ich nicke erst ein, wache eine halbe Stunde später wieder auf und kann dann nur noch schwer zurück finden in den Schlaf, den ich mir so sehnlich wünsche. Ich habe das Gefühl, dass es mir wieder entgleitet. Ich habe es nicht unter Kontrolle, es macht mir mir, was es will. Ich bin nur Zuschauer dessen, was passiert. Machtlos. Schon wieder. Trotz Stresshocke und Zitronensaft und dem Versuch, meine Gedanken wie gelernt zu kontrollieren.

Ich mache in der Klinik keine Fortschritte, vielleicht sogar Rückschritte“, kommt mir in den Kopf. Abbrechen? Macht das alles Sinn? Wie lange soll das noch so weiter gehen? Bin ich jetzt monatelang in der Klinik? Was wird aus meinem Job? Ich renne schon wieder komplett katastrophisierend ins Kopf-Chaos. Bloß weg aus der Wohnung, weg von der Enttäuschung, leider auch weg von meinem Mann – ich fahre zurück in die Klinik. Eine Mitarbeiterin fragt: „Und, wie war das Wochenende?“ Das ist zu viel. Ich rette mich ins Zimmer und heule. Eine gefühlte Großpackung Taschentücher geht dabei drauf. „Belastungserprobung“ – das trifft es wirklich.

Regentropfen auf Fensterscheibe
Quelle: Freepik / Wirestock

Die Klinik – Teil 2. Allein mit den Gedanken.

Vierzehn Tage bin ich jetzt in selbstgewählter Isolation und weg von meinem bisherigen Leben. Die hochpräzise Zusammenfassung dieser zwei Wochen lautet: „Uff“. Das hatte ich mir anders vorgestellt. Emotional belastend, sicher. Statt dessen aber war es eine Achterbahnfahrt der Gefühle. Die mich durchschüttelt bis Tränen fließen. Sprichwörtlich.

Einsam, abgeschoben, hilflos. Drei Worte, die in diesen Wochen für mich selbst viel Bedeutung bekommen haben. Ich kämpfe sehr damit, mein bisheriges Leben abzugeben. All die Routinen, die ich bisher so hatte, sind hier nicht mehr gefragt. Stattdessen gibt es plötzlich ganz viel Leere. Ich merkte, dass ich gefangen bin in meinen Ritualen, meinem Beruf, den Alltäglichkeiten. „Was erwarte ich eigentlich von meinem Leben und wie will ich, dass das weiter geht?“ ist plötzlich die wichtige Frage. Und damit verbunden: Wie konnte es passieren, dass ich zu dem wurde, was ich jetzt bin? Zwei Fragen von so großer Tiefe, dass sie mich oft weinen lassen in meinem kleinen Zimmer in der Psycho-Klinik.

Mann in der Nacht allein auf Parkbank
Quelle: Pixabay / Pexels

Endlich Ruhe - vorerst

Der positive Teil daran: ich habe schon lange nicht mehr eine derartige Ruhe in mir gefühlt. Klingt paradox, aber es gibt eben auch zwei unterschiedliche Gefühle, die gleichzeitig wahr sein können. Normalerweise merke ich sauch wenn ich freie Tage habe oder im Urlaub bin ein seltsames Kribbeln in mir. Arme, Brust, manchmal Kopf – das Kribbelgefühl ist im Alltag fast immer da. Ich brauche dann eine große Portion Disziplin, um anderen Menschen zuzuhören und für Gespräche offen zu sein. „Die schönsten 3 Minuten eines Tages sind am Morgen, wenn das Gehirn noch nicht richtig denkt und man noch ein bisschen dösig ist“, sagte ein Mitpatient, der unter Depressionen leidet. Dieses Gefühl kenne ich. Sobald ich beginne nachzudenken, gehen die seltsamen Gefühle bei mir los. Hier in der Klinik aber sind sie plötzlich weg.

 

Die Sache mit der Geduld

Zwei Wochen Zeit wollte ich mir geben, um zu entscheiden, ob ich hier weiter mache. In der Hoffnung, dass zwei Wochen vielleicht schon reichen, um mich „zurück in die Spur“ zu kriegen. Ein lächerlicher Gedanke, wie ich jetzt sagen muss. Die bittere Lektion, die ich bereits gelernt habe: was man in 50 Lebensjahren eingeübt hat, lässt sich nicht mal eben in zwei Wochen verlernen. Es wird länger dauern. Viel länger vermutlich. „Monate lang raus aus dem Leben“, nenne ich das immer noch und hoffe, dass ich es irgendwann als „Monatelang die Chance, ein gutes Leben zu erreichen“ empfinden werde.

 

Vielleicht liegt das zögerliche Gefühl auch daran, dass ich eher sporadischen Kontakt zu „meiner Gruppe“ habe, der ich zugewiesen wurde. Derzeit sind wir zu fünft. Fünf Menschen, teils älter als ich, teils deutlich jünger, manche von ihnen mit Persönlichkeiten ausgestattet, zu denen ich nicht recht Zugang finde. Es sind fünf Menschen mit unterschiedlichen Störungsbildern. Ich gestehe: es ist der Punkt, der mich von Anfang hat skeptisch gemacht hat. „Mitpatienten sind deine wichtigsten Therapeuten“ hat eine Bekannte zu mir gesagt, die auch schon in einer Klinik zur Therapie war. Aber „die“ hier? Wie können „die“ mit helfen? Vor allem in unseren Gruppensitzungen merke ich, dass jeder von ihnen in seiner eigenen Gedankenwelt festhängt. Es ergibt sich kurz ein netter Kontakt zu einem Mitpatienten aus einer anderen Gruppe, der aber wieder abbricht. „Erwarte nicht, dass Du dort Freunde findest“, hat mir mal jemand gesagt. Ich merke, das stimmt. Es sind Zweck- und keine Herzens-Kontakte. Schade, ich vermisse Freunde. Ob die mich vielleicht aber nur von mir selbst ablenken würden? Oder meine temporäre Einsamkeit sogar gut ist?

Stuhl steht in einem weiten See
Quelle: Freepik / Wirestock

Es wird ein langer Kampf

Letztendlich kämpft hier jeder für sich. Und doch fühle ich langsam – oder besser: ganz langsam – dass uns alle etwas verbindet. Wir alle hängen sehr in unserer Vergangenheit, in der seltsame, schlechte, traumatische Dinge passiert sind und wir alle schaffen es nur schwer, solche Gedanken gehen zu lassen und uns der Zukunft zuzuwenden. Außerdem sind viele von uns ein bisschen „empfindsamer“ als andere Menschen und damit empfänglicher für Stimmungen. Wir beobachten uns sehr stark selbst, reflektieren dies und verstärken es dadurch. Schon als Schüler habe ich das bemerkt: „Ich leide und schaue mich gleichzeitig von außen dabei zu, wie ich leide – und leide dadurch doppelt“, habe ich es damals formuliert. Ein Satz, den ich schon lange nicht mehr gedacht habe, der mir jetzt wieder einfällt und der mir den Spiegel vorhält. Hätte ich mich viel früher um mich selbst kümmern sollen statt 50 Jahre vor mich hin zu wurschteln? Schon wieder so ein Gedanke. Besser wäre: Sei froh, dass Du jetzt erkannt hast und mach das beste daraus. Ich arbeite daran.

Die Klinik – Teil 1. Ankommen.

Es fühlt sich absurd an. Tür auf, Corona-Test machen, Zimmer beziehen. Und dann ist man plötzlich „drin“. In einer Klinik für psychosomatische Medizin, also für Patienten, deren seelische Probleme (Psycho…) sich auch körperlich (…somatisch) äußern. Genau wie bei mir: Was sich in meinem Kopf abspielt, produziert bei mir allerlei Krankheitssymptome und bringt mich sprichwörtlich um den Schlaf.

Die Klinik soll mir also weiter helfen. Und doch fühlt es sich absurd an, hier zu sein. In der „Klapse“. Das Wort ist abwertend und zudem noch falsch, denn das hier ist keine geschlossene Station für Menschen, die gefährlich für sich und für andere sind, sondern für Menschen wie mich. Die „minder schweren Fälle“. Das klingt niedlich, doch wenn mein Fall „minder schwer“ ist, dann will ich „richtig schwer“ gar nicht kennen lernen. So viel habe ich geweint, gelitten und war verzweifelt in den vergangenen Monaten. „Minder schwer“ fühlt sich das alles nicht an.

Die erste Nacht ist schrecklich. Neue Umgebung, unbekannte Gerüche und Geräusche, ein Krankenhaus für Psychos wie mich. Ich habe Schuldgefühle und spüre Scham, hier gelandet zu sein. Und trotzdem kann ich in der ersten Nacht erstaunlich gut schlafen. Besser als zu Hause in dem Bett, in dem ich so viele schwierige Nächte voller Verzweiflung erlebt habe. Eine unbelastet Umgebung – aber auch der Gedanke: schön und gut, aber was nützt mir das? Ich will doch wieder nach Hause und dort ebenfalls gut schlafen können. Später werde ich lernen: das hatte ich mir alles viel zu leicht vorgestellt.

Ich bekomme einen Wochenplan. Einzeltherapie, Gruppentherapie, Bewegungstherapie, Tanztherapie, Kunsttherapie. Das klingt genau so, wie ich es mir im Klischee vorgestellt habe. Nur diesmal bin ich selbst mittendrin. Und fühle mich lächerlich vor mir selbst. Da bin ich also. Gelandet in der Psycho-Mühle. Es folgen erste Gespräche mit meinen Therapeuten. Körperliche und seelische Untersuchungen. Und – nervig – alles, was ich vorher einer ambulanten Therapeutin ausführlich erzählt hatte, muss ich hier noch mal durchkauen. Anstrengend. Schnell wird mir klar: das hier ist kein „Sanatorium“ aus Filmen, in denen sich betuchte Damen und Herren gepflegt vom Stress des Lebens erholten und deren größte Anstrengung Maniküre und Pediküre sind. Das hier ist Arbeit. Mit einem strengen Zeitplan. Frühstück bis 8:10 Uhr (warum ..“10“ werde ich wohl nie verstehen). Also früh raus aus dem Bett. Lange rumlungern gibt’s nicht.

Gefaltete Hände in Nahaufnahme, Therapiesitzung
Quelle: Freepic / 1m Ressourcen

Ich habe große Probleme, hier gedanklich und emotional anzukommen. Die Klinik ist und in der gleichen Stadt wie mein  Zuhause. Das klingt toll und praktisch, ist es aber am Anfang nicht. Gedanklich bin ich oft zu Hause, „dort drüben“, in meinem „alten Leben“. Ganz nah und trotzdem unerreichbar. Eine gewollte Entscheidung. Und trotzdem schwierig. Ich bin oft traurig in den ersten Tagen. Allerdings: Klinikplätze sind anders als Hotelzimmer. Wenn man einen kriegt, dann greift man zu und freut sich. Also muss ich irgendwie damit klar kommen. Sagt sich so leicht, ist es nicht. Zwei Wochen brauche ich, bis mein Kopf und mein Gefühl endlich „hier“ waren. Wie das wohl alles weiter geht?

Die Klinik

Es war eine bedrückende und befreiende Erkenntnis zugleich: es geht nicht mehr. Nicht mehr allein. Ich brauche Hilfe. Mehr, als ich bei einem wöchentlichen Besuch bei einer Psychologin bekommen konnte. Ich brauchte einen stationären Aufenthalt in einer Klinik. Mit diesem Eingeständnis war endlich klar, was ich lange vor mir versteckt hatte: ich schaffe es einfach nicht allein. Hier beschreibe ich, was ich dort erlebt habe und derzeit noch erlebe. Der Name der Klinik bleibt unerwähnt. Die Fotos sind nur Symbolfotos. 

Weisser, heller Eingangsbereich eines Krankenhausgebäudes
Quelle: Freepic / topntp26

Verkorkste Kindheit

Es klingt genau nach dem Klischee, das man bei Psychotherapeuten erwartet: Der Auslöser von allerlei „Knoten im Kopf“ ist oft die Kindheit, heißt es. Darum war ich sehr skeptisch, als ich in meiner Therapie davon hörte. „Klar, immer ist es die Kindheit, denen fällt auch nix anderes ein“, dachte ich. Später musste ich lernen: das vermeintliche Klischee war in meinem Fall schlicht und einfach wahr.

Ich mag hier nicht allzu sehr ins Detail gehen, denn das würde eine Grenze überschreiten, die ich nicht überschreiten möchte. Nicht, weil ich der Internet-Öffentlichkeit plötzlich misstrauen würde. Sonst hätte ich alles andere in diesem Blog sicher gar nicht erst geschrieben. Sondern weil in diesem Fall andere Menschen, nämlich meine Eltern, Teil der Geschichte sind. Was ich aber öffentlich sagen kann: ich hatte eine völlig verkorkste Kindheit. Mit körperlicher und seelischer Gewalt durch den Vater. Einer Mutter, die mich beschützen wollte, aber nicht konnte und einem Zuhause, in dem ich mich selten sicher, sondern ständig bedroht fühlte.

Ein paar Schläge haben noch niemandem geschadet?

Es war nämlich mehr als nur ein paar Schläge. Es war die grausame, kraftvolle Hand, deren Finger ich an meinem Hintern spürte. Der Gürtel, der mit seiner Metallschnalle so richtig schmerzte, wenn er mich auf den Rücken traf. Es waren viele kleine Details, die ich schmerzhaft gefühlt habe. Viel mehr als das Wort „Schläge“ je ausdrücken könnte.

Vor allem aber war es die psychische Gewalt gegen mich als Kind. Der Liebesentzug, die permanenten „Du wirst versagen und alles wird im Chaos enden“-Geschichten. Das ständige Gefühl, alles falsch zu machen, ständig kritisiert zu werden und natürlich die dauernd vorhandene Angst vor der nächsten Prügel-Attacke.

Junge hält sich die Hände vor Gesicht und Vater mit einem Gürtel im Vordergrund
Quelle: FlickR / Rick's visuals

Nur ein paar Schläge“ … und viele Auswirkungen

Heute weiß ich: Misshandlungen in der Kindheit erschüttern das, was Kinder am meisten brauchen. Das absolute Vertrauen, dass Ihre Eltern hinter Ihnen stehen. Die einzig wirklich wichtigen Bezugspersonen in ihrem Leben. Wenn diese Personen emotional nicht da sind sondern – wie bei mir – Vertrauen und das Gefühl, geliebt zu sein wie man ist, durch Gewalt und Bedrohung ersetzt werden, dann war’s das. Emotionales Game over. Bei mir zumindest. 

Mein Körper in ständiger Alarmstimmung

Ich war ständig auf der Hut wie ein Erdmännchen, das um sein Leben fürchtet … irgendwie muss ich das Symbolbild nebenan ja erklären…. ich wollte nicht „schon wieder“ einen „Fehler“ zu machen, der zu Schläge führte. Ich war immer leise, um nicht schon wieder angebrüllt zu werden. Ich war selten „ich“, wenn mein Vater in der Nähe war. Das ging nur, wenn ich mit meiner Mutter allein war. Sie war die Person, die wirklich wusste, wie ich bin und was ich will.

Bis ich es irgendwann nicht mehr ausgehalten und gegen meinen Vater rebelliert habe. Mit absehbaren, schmerzhaften Konsequenzen. Mein einziges Gegenmittel: meinen Vater auszulachen, während er mich mal wieder verprügelte. „Mehr fällt dir nicht ein, was? Immer nur prügeln, prügeln, prügeln“, habe ich ihm ins Gesicht geschrien. Das Ergebnis: seine Wut wurde noch größer, weil er seine eigene Hilflosigkeit gespürt hat. Die Schläge wurden ebenfalls noch schlimmer. Trotzdem hatte ich gewonnen. So zumindest mein Gefühl. Ich habe ihn an einer Stelle entblößt, über die er keine Gewalt hatte: seine eigene Hilflosigkeit gegenüber seinen Gefühlen.

Rudel Erdmännchen
Quelle: Pixabay / Mark

Was am Ende dabei raus kommt

In meinem Fall kam dann leider im Alter von 10 – 14 Jahren auch noch eine schwere Krankheit dazu. Fast vier Jahre dauernden Krankenhausaufenthalt mit vielen schweren Operationen. Beides in Kombination hat es geschafft, mich endgültig als permanent schwach, verletzlich und wehrlos zu erleben. Das Resultat: Angst. Vor ganz vielem. Dass mir das Leben entgleiten könnte, wie mein Vater drohend prophezeit hat. Das alles ganz schlimm enden würde. Dass der kleinste Fehler zerstörerische Konsequenzen haben könnte. Ein kleiner Trigger kann dafür sorgen, dass ich katastrophisiere. Wenn, ja, wenn es mich emotional betrifft. Ein wichtiges Detail.

Das klingt, als ob man mit einer Kindheit wie meiner nicht zu einem selbstbewussten erwachsenen Menschen werden kann, gell? Falsch! Nur ist mein Selbstbewusstsein sehr selektiv. Wenn ich die Dinge im Griff habe, dann kann ich nach außen dabei erstaunlich selbstsicher wirken. Passieren Dinge, die mich in meine Kindheitserlebnisse zurück rutschen lassen, dann ist es das Gegenteil. Plötzlich bin ich wieder der kleine Junge, der Angst hat. Ich ziehe mich zurück und in meinem Gefühlen ist das Ende meiner kleinen Welt nah. Beim Aufschreiben und mit emotionaler Distanz bringt mich das zum Lachen, weil es so absurd übertrieben klingt. Ist aber leider wahr. Ich arbeite daran. Eines meiner wichtigen Ziele.

Meine Bitte

In einer Therapiesitzung habe ich es einmal auf den Punkt gebracht. Ich habe meinen Vater, längst verstorben, angeschrien: „Du Arschloch, weißt Du eigentlich, dass Du mir mein ganzes Leben versaut hast? Du hast gesagt, du willst mich beschützen, und was hast du getan? Mein ganzes Leben kaputt gemacht!!“ Ich hatte Tränen in den Augen und es fühlte sich an, als ob mein Körper beben und meine Haut kribbeln würde. Darum, liebe Eltern: bitte, bitte, gebt Euren Kindern Liebe und Rückhalt und das unerschütterliche Gefühl, Euch vertrauen zu können. Selbst wenn mal Mist passiert. Ich habe selbst keine Kinder, kann also „leicht“ reden. Und ich sehe bei Freunden, wie nervenaufreibend Kinder sein können. Und wie schwer ist, nicht auszuflippen, die Kids anzuschreien, die Hand zu erheben. Aber wollt ihr Ihnen einen verschissenen Lebensstart bereiten wie mein Vater es bei mir getan hat? Darum: Macht ihnen keine Angst, auch wenn Ihr Angst um sie habt. Ihr seid die ganz kleine große Welt Eurer Kinder. Und die muss für sie sicher sein. Wenn Ihr Ängste fühlt und meint, Eure Kinder nur durch extreme Kontrolle und Einschüchterung von dem vermeintlich Bösen in dieser Welt beschützen zu müssen, dann macht sie nicht zu den Ängsten Eurer Kinder. Das ist EURE Baustelle, nicht die Eurer Kinder.

Quelle: Pixabay / Shannon Lawford

Schlafen. Einfach nur schlafen.

Ich erinnere mich noch an die Zeit, als ich gerne ins Bett ging. Schlafen war schön. Am Wochenende gerne auch bis 11. Ich mochte das Gefühl, sich in einem Bett wohl zu fühlen. Es scheint wie eine Erinnerung an Tage, die sehr vorbei sind.

Denn plötzlich änderte sich meine Welt. Plötzlich hatte ich Angst. Vor meinem Bett. Vor dem Schlafzimmer. Auslöser war der Umzug meines Hauptauftraggebers, für den ich als Selbständiger damals extra in die Stadt gezogen bin, in der das Unternehmen viele Jahre seinen Sitz hatte. Der Umzug des Auftraggebers bedeutet für mich: ich wurde zum Pendler. Ungefragt. Ich fühlte mich ausgeliefert, denn ich musste es mitmachen. Oder arbeitslos werden. Also keine Option. Plötzlich lagen 50 Kilometer zwischen mir und dem Arbeitsplatz. Besonders morgens ist das eine Herausforderung. Werde ich den Wecker hören? Wird es Stau geben? Werde ich rechtzeitig vor Ort sein? Meine Ängste vor Frühschichten brachten mich um den Schlaf.

Mond
Quelle: Pixabay / Peter Dargatz

Selbsterfüllende Prophezeiung

Das völlig „bekloppte“ beim Nicht-Einschlafen-Können ist: je mehr Angst ich davor habe, dass es „wieder“ passieren könnte, desto aufgeregter wurde ich und desto schlechter konnte ich wirklich einschlafen. Da zeigt sich die Angststörung von ihrer wirklich absurden Seite. Allein der Gedanke, etwas könnte passieren, lässt es dann wirklich passieren. Und das auch immer häufiger. Zum Schluss ging es nicht mehr nur um Frühschichten. Jede Nacht, wirklich jede, wurde zur Herausforderung. Viele davon habe ich zum Schluss weinend auf dem Sofa verbracht. So aufgewühlt war ich vor Ärger, mal wieder nicht schlafen zu können. 

Das Sofa war mein letztes Refugium, auf dem Schlafen noch ein bisschen funktionierte. Selbst wenn es nur zwei, drei Stunden waren. Manchmal war meine Welt so absurd, dass ich nach einer Stunde verzweifelten „ich möchte durch nur schlafen“-Weinens heulend aus dem Bett aufstand, mich aufs Sofa legte und dort innerhalb von zwei Minuten eingeschlafen war. Und mit Rückschmerzen aufwachte, denn Sofas eignen sich nicht wirklich für entspannte Nächte. In meinem Kopf hatten sich „bekloppte“ Dinge verknüpft. Bett bedeutete Panik, Angst, Ärger, Schlaflosigkeit. Sofa bedeutete Hoffnung, Rettung, Rückzugsort. Es ging also gar nicht darum, dass ich unter einer „echten Insomnie“ litt, sondern es ging zum großen Teil um die Bewertung des Ortes „Bett“. Und um die Bewertung der Tatsache „Einschlafstörung“.

Denn die machte mich verzweifelt und aggressiv. Wie oft hätte ich mitten in der Nacht am liebsten die halbe Wohnungseinrichtung zerlegt, um meine Aggression gegen meine Schlafstörungen irgendwie los zu werden. So oft habe ich gedacht, dass es gut ist,d dass ich nicht dazu neige, mich selbst zu verletzen. Dann hätte ich es nämlich in solchen Nächten getan. „Schlafen, ich will nur schlafen. Ich will mein altes Leben zurück. Warum passiert mir so eine Scheiße? Das wird immer so weiter gehen und ich werde aus dem Leben kippen!“, waren meine Gedanken. Statt darin etwas positives zu sehen. Ja, ich hätte gern geschlafen. Das wäre meine erste Wahl gewesen. Aber ich hätte auch denken können: „ok, geht jetzt nicht, aber cool, dann hast du jetzt Zeit, noch den Papierkram fertig zu machen. Oder eine Folge der Lieblingsserie zu sehen. Oder noch eben die Wäsche zu bügeln. Oder per Kopfhörer Keyboard zu spielen, was sich doch immer so gut anfühlte“. Das alles fiel mir aber nicht ein. So fixiert war ich auf meine Verzweiflung.

Faust schlägt durch Glasscheibe
Quelle: Pixabay / Wendy Corniquet

Was ich geschafft habe und was nicht

Noch immer bin ich auf dem Weg zur einer Lösung. Derzeit läuft es zwar ganz gut, aber ich traue dem Braten noch nicht. Zu intensiv waren die Erfahrungen in verzweifelten Nächten. Das hat sich eingebrannt und Spuren hinterlassen. Zur Wahrheit gehört, dass ich in Absprache mit meinem Psychiater die abendliche Dosis meines Antidepressivums erhöht habe. Ob das aber wirklich das Ausschlaggebende war? Immerhin habe ich in größter Wut und Verzweiflung schon so starke Gefühle produziert, die sämtliche Tabletten wirkungslos haben werden lassen. Ich glaubte also gar nicht mehr so recht an die Wirkung der Medikamente. Verantwortlich dafür, dass das mit dem Schlafen derzeit wieder einigermaßen klappt, scheint mir vor allem, dass ich zwei gute Nächte hintereinander hatte. Und das hat offenbar gereicht, mir so viel Mut zu machen, dass das „verdammte Schlafen“ plötzlich wieder klappte. Und dabei habe ich gelernt: total „bekloppt“ ist, was das Gehirn mit mir macht. Scheinbar geht es nämlich nicht nur um Fakten, sondern auch ganz viel um deren Bewertung. „Denke Gutes und es wird Gutes passieren“, klingt mir viel zu klischeehaft. Aber ein bisschen was Wahres scheint daran zu sein. Auch wenn das mit dem Gutes denken oft schnell gesagt ist, aber sehr lange braucht, bis es klappt. Irgendwie darf man nicht aufgeben. Trotz aller Entnervung immer weiter machen. Das kostet Kraft. Verdammt viel Kraft.

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